Privat Profi, Beruflich Amateur?

„Beruflich Profi, privat Amateur?“ ist ein Ratgeber von Günter F. Gross (2009), der sich mit der Vereinbarkeit von berufliche Spitzenleistungen und persönlicher Lebensqualität auseinandersetzt.
Ich hatte Gelegenheit im Rahmen eines Seminars Herrn Gross persönlich kennenzulernen. 9 von 10 Teilnehmern gaben zu, dass ihr Hauptaugenmerk auf die berufliche Performanz ausgerichtet war und in der Folge erhebliche Defizite bei der Beziehungsarbeit in der Familie, bzw. Partnerschaft bestanden.

Zentrales Anliegen des Seminars war es zu vermitteln, dass beruflich erfolgreiche Menschen im privaten Bereich nur eine Bruchteil der Disziplin zum Einhalten von Versprechenund Vorsätzen aufbringen wie im Job. Nach seiner Überzeugung müsse man Eigenschaften, die zum beruflichen Erfolg geführt haben nutzen, um den Privatbereich in der Griff zu bekommen. Privatleben als Managementaufgabe? Das kam wohltuend an, denn wenn wir fähig sind beruflich erfolgreich zu sein, müssten wir genauso über die Kompetenz verfügen unser Privatleben zu gestalten. Mahnungen, dass es nicht notwendigerweise nicht die gleichen Kompetenzen sind, wurden geflissentlich überhört.

Resilenz

Es wundert mich, dass inmitten von Resilenz Diskussionen kein Coach ein Seminar unter dem Titel „Privat Profi, Beruflich Amateur“ anbietet: Wie entwickle ich psychische Widerstandskraft, wenn es nicht so läuft wie es soll? Wie kann ich die Fähigkeit entwickeln, schwierige Lebenssituationen privat und im Beruf ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen?
Stellte sich vor 20 Jahren die Frage wie Arbeits- und Privatleben miteinander in Einklang zu bringen sind, haben sich die Voraussetzungen geändert. Viele Menschen müssen zur Gestaltung ihres Privatlebens soviel Energie aufbringen, dass sie den beruflichen Anforderungen nicht mehr gerecht werden. Die Situation hat sich umgekehrt. Warum empfiehlt man Menschen, die im Privaten erfolgreich sind, nicht die dort gelebten Erfolgsprinzipien wie Empathie, Ausdauer und Dialogfähigkeit in das berufliche Leben zu übertragen.

Damals wie heute dreht sich alles um die Ausgewogenheit. Privat- und Berufsleben ist ein Engagement an zwei Fronten. Die Krise an einer der Fronten zieht soviel Aufmerksamkeit auf sich, dass die zweite Front fast zwangsläufig vernachlässigt wird. Daraus können weitere Krisen und letztendlich ein Teufelskreis entstehen. Im Ergebnis entwickeln sich depressive Verstimmungen bis hin zum Burnout.

Die Seminare „Beruflich Profi, privat Amateur?“ wurden für hochgradig belastete Führungskräfte ohne ihre Partner/in angeboten. Womöglich ging man damals davon aus, dass Langmut und Toleranz der Partner/in ausreichen, um selbst nach längerer Zeit der Enttäuschungen durch Verhaltensänderungen noch eine Wende einleiten zu können. Nach meiner Wahrnehmung hat diese Geduld – wenn es sie denn überhaupt gegeben hat – abgenommen. Eine Balance ist nur durch eine auf klaren Regeln und Absprachen bestehenden Vereinbarung möglich, die eine zeitlich befristete Priorisierung des einen oder anderen Bereichs vorsieht. Solche Vereinbarungen werden nur halten, wenn sie regelmäßig, aktualisiert und angepasst werden.

Stressreduktion

Um Stressphasen zu überstehen braucht es Gelassenheit auf beiden Seiten und konfliktfreudige und kommunikationsstarke Partner. Diese idealtypische Konstellation dürfte ohne eigene Bemühungen kaum zu erreichen sein. Ein hilfreicher Ansatz besteht in MBSR-Trainings zur achtsamkeitsbasierten Stressreduktion. Autogenes Training oder ohne groößeren Aufwand zu erlernende Methoden wie die progressive Muskelentspannung mindern ebenfalls die Gefahr des Kontrollverlusts in Stresssituationen.

Die Antwort meiner berufstätigen Patientinnen auf diese Empfehlung lautete regelhaft: „Herr Professor, morgens und abends muss ich die Kinder in die Kita bringen und einkaufen. 2 x die Woche gehe ich ins Fitness-Studio und mindetsens 1 x sind wir eingeladen oder haben eine Abendveranstaltung. Woher soll ich die Zeit nehmen?“
Okay, dann versuchen Sie es vielleicht mit einem Gebet:
Herr, schenke mir Geduld! Aber ein bisschen plötzlich!

Zurück zum Blog

Portraitfoto von Prof. Dr. med. H.-Peter Scheidel
Über Peter Scheidel

Prof. Dr. med. Peter Scheidel war von 1989 bis 2008 Chefarzt der Frauenklinik im Marienkrankenhaus Hamburg und von 2009 bis 2017 Leitender Arzt im  Mammazentrum Hamburg – 2017 ausgezeichnet mit dem German Brand Award.
Seit 2018 bietet er verhaltenes Mittun beim erfolgreichen und verantworteten unternehmerischen Handeln im Bereich der Gesundheitswirschaft